leeren, lücken, mängel und poröses
Wie Sie sicherlich unschwer erkennen können, haben die Arbeiten von Jochen Mura etwas mit Architektur zu tun. Aber ebenso offensichtlich ist, dass hier kein Architekt am Werke ist, denn es gibt keine frei gezeichneten Ideenskizzen oder Entwürfe, keine Modelle für zu realisierende Bauten, keine Bauzeichnungen oder gar technischen Anweisungen. Stattdessen begegnen uns farbige Wandzeichnungen, zu einem Block zusammengestellte Fotografien, mehrteilige Skulpturen, ruinöse Architekturmodelle unter Glassturz und auch Collagen aus bearbeiteten historischen Entwürfen. Demnach bewegt sich Mura zwischen und in den Genres Malerei, Skulptur, Fotografie und Architektur, um gezielt deren Aussagefähigkeit zu prüfen und Grenzen auszureizen. Die Wahrnehmung von uns Betrachtern wird mitunter hart auf die Probe gestellt.
Anregungen für seine Arbeiten gewinnt Mura zweifelsohne aus der Realität, dem urbanen Raum, will sagen, aus dem derzeitigen Zustand unserer Städte. Mit einer Kamera bewaffnet durchstreift er als kritischer Beobachter die Stadt; dabei interessiert ihn nicht etwa der architektonisch herausragende Solitär, vielmehr stößt er sich an den Bruch- und Leerstellen; das Durchschnittliche reizt ihn oder aber die kuriosen, abnormen Auswüchse zeitgenössischen Bauens. Ausdrücklich betont er, keine Kritik üben zu wollen, und doch zeugen seine Arbeiten von einer wachen Aufmerksamkeit und kritischen Stellungnahme.
Es gibt von Mura Skulpturen, in denen er z.B. die skurrilen, vor Regen schützenden Vordächer auf geistreiche Art parodiert. Seine letzte größere Ausstellung war voll von derlei anekdotisch-kritischen, architekturbezogenen Arbeiten. Es sind Variationen zu speziellen Fragestellungen, die unter sprechenden Titeln zusammengefasst sind, wie etwa „Geschossbauten“, „Verblender“, „Versorgungsschächte“ oder „Implantate“. Beispiele einiger Themenfelder hat er auch in diese Ausstellung aufgenommen.
Am erzählerischsten sind vielleicht noch die „Versorgungsschächte“. Bei jenen orientiert er sich zwar an den handelsüblichen technischen Vorrichtungen zur energetischen Versorgung, aber die Skulpturen geraten augenscheinlich zu absurden Baugebilden, die sogar an menschliche Unterkünfte erinnern. Ich persönlich fühlte mich sogar an die christlichen Fluchtbauten in Kappadokien erinnert. Aufs Ganze betrachtet sieht es so aus, als habe Mura für diese Schau diejenigen Arbeiten zusammengestellt, die in ihrer Bildsprache reduzierter sind und die eher in Richtung konstruktive Abstraktion tendieren. In ihnen entfernt er sich von der direkten Anbindung an die und Reaktion auf die Architektur und vagabundiert freier auf Feldern zwischen Inhalt und Form und zwischen den Disziplinen. Vorstellungen, innere Bilder von der brüchigen Welt, von den Mängeln unserer Gegenwart suchen sich ihren Weg Gestalt anzunehmen. Der Bezug zur Realität geht aber auch immer wieder verloren. Dann fällt einem bestimmten Material die Rolle zu, Initialzündung für eine Arbeit abzugeben. Mura experimentiert mit den unterschiedlichen Materialien als da sind Baustoffe, Fundstücke, besondere Papiere, Pappen oder auch Fotos und tastet sich im Laufe des Bearbeitens der Werkstücke allmählich an das Reale heran. Die Stoffe inspirieren ihn, Versuche mit ihnen anzustellen und sie zweckentfremdend einzusetzen. Dabei ist deutlich zu erkennen, dass er Übergänge zwischen Malerei und Skulptur, zwischen Zwei- und Dreidimensionalität auslotet.
Gelungene Beispiele dieser Zwitterwesen sind die Wandobjekte „Displace“. Die gerahmten Glaskästen muten von weitem wie konstruktive Gemälde an, wie farblich und formal fein austarierte Kompositionen. Und tatsächlich enthalten die Objekte gemalte Partien, aber Träger ist nicht die flache Leinwand sondern sind Teile aus Glas oder Karton. Schräg gestellt oder hintereinander gestaffelt, ergeben die einzelnen Bildteile ein kompliziertes raumhaltiges Gebilde zwischen Collage, Relief, Skulptur und Bauglied. Die rüden Holzrahmen verstärken den Eindruck eines unabgeschlossenen, gefährdeten, aber lebendigen Prozesses.
Mura spielt ein Thema wie etwa die „Geschossbauten“ sogar in mehreren Erscheinungsformen und damit unterschiedlichen Stadien der Realisierung durch. Es gibt einen ganzen Zyklus von farbigen Zeichnungen unter dem Thema „Geschossbauten“, bei welchen die imaginierten Hochbauten in die Waagerechte gekippt sind und durch diesen Schachzug konstruktiver Malerei nahe kommen. Ins Plastische gehoben, visualisieren die Körper hingegen unmittelbar Wolkenkratzer, ganz gleich, ob horizontal oder vertikal aufgestellt. Die hier aufeinander gestapelten dreiteiligen Kästen erinnern mit ihren verblendeten Fronten allerdings nur von Ferne an gigantischen Wohnungsbau.
Nehmen wir die Exemplare der Gruppe „Hausaufgabe“ hinzu, diese flachen Skulpturen unter Glas, dann gerät die Maßstäblichkeit vollends durcheinander. Bereits der Titel „Haus-Aufgabe“ ist doppeldeutig, kann er doch als dringliche Bauaufgabe für Architekten gemeint sein oder aber bedeuten, dass dieser Bau auf Grund seines ruinösen Zustands aufgegeben wird. Die herausgeschnittenen Fenster dieser Skulpturen liegen im Innern der schmalen Riegel. Sie öffnen einen neuen Raum, zusätzlich zu dem zwischen Kasten und Skulptur und bringen damit eine grundlegende Frage ins Spiel, die sämtliche Arbeiten durchzieht, nämlich: Wann bildet sich Raum, wie stellt sich Raum her und was ist Raum. Die Geschichte der Malerei hat gelehrt, dass Raum bereits auf der Fläche imaginiert werden kann. In dem Sinne ruft Mura, der einst als Maler begonnen hat, Dreidimensionales auf, wie bereits in den Zeichnungen zu „Geschossbauten“ erwähnt. Aber er ist sehr früh dazu übergegangen, die Bildebene gewissermaßen zu materialisieren, zunächst einmal durch an die Wand verbrachte Bodenbeläge, später etwa durch flache „Verblender“, beide Male also durch „Objets Trouvés“. Aber, ob gefunden oder gekauft, immer haben die Materialien den Anstrich des Provisorischen, dem wahrlich jeder Anspruch auf Ewigkeit abgeht.
Mit solcher Art haptischer Malerei oder Relief tritt die Wand zwangsläufig mit dem Realraum in Verbindung. Mura hat hier die beiden einander gegenüber hängenden, quadratischen Stücke handelsüblicher „Verblender“ - also Fliesen vortäuschende Flachware – mit kleinen witzigen Zutaten angereichert. Dadurch steht es um Räumliches und Inhaltliches komplizierter. Plötzlich gewinnen die Relikte ehemaliger Wandverkleidung, die wie Bilder im Raum hängen und stehen, die Bedeutung von Hausfassaden von mit Blumen geschmückten Balkonen. Der Innenraum wandelt sich zum Außenraum. Gewohnte Seherfahrungen werden getäuscht.
Auch bei den grafisch anmutenden, farbig gestrichenen Gittern aus Pappe der Gruppe „Getting closer“ geraten Raum und Maßstab durcheinander. Der Raum ist verstellt und gleichsam daran gehindert, sich nach vorne und nach hinten auszudehnen. – Normalerweise ist die Positionierung einer Arbeit für ihre Aussage mit entscheidend. An der Wand, auf einem Podest oder auf dem Boden – die Art der Aufstellung beeinflusst, welche Assoziationen eine Arbeit zulässt. Mura hingegen durchkreuzt mitunter gewitzt diese automatische Reaktion des Betrachters, er vereitelt mit formalen Mitteln, seine Werke inhaltlich zuzuordnen oder gar eindeutig zu definieren.
Wie breit sein Experimentierfeld angelegt ist, zeigen abschließend die beiden wunderbaren Wandarbeiten, bei denen er auf historisches Material zurückgreift.
In dem schwarzweißen Wandbild hat Mura einen Foto-Ausschnitt einer Fassade zu einem seriellen Tableau vervielfältigt. Das Ergebnis ist frappierend: als Vorlage dient der Ausschnitt eines Bauwerks des finnischen Architekten Alvar Aalto aus den 20er Jahren, einer Dekade, in der man versuchte, das Material Backstein um skulpturale Ausprägungen anzureichern. Das Foto ebnet naturgemäß das Dreidimensionale wieder ein. Hier durch Mura als Rapport eingesetzt, ergibt das Foto ein flächendeckendes Ornament und gleichzeitig die Vorstellung eines grotesken Wohnareals.
Schließlich seien Ihnen noch die kleinen Farbdrucke unter dem geistreichen Titel „Stoßlüften“ ans Herz gelegt. In ihnen erhält das Thema, zwischen Zwei- und Dreidimensionalität zu vermitteln oder dieses Verhältnis im Gegenteil zu verunklären, eine spannende Variante. Größenverhältnisse geraten durcheinander und damit auch Bedeutungen. Der Künstler hat hier aquarellierte Möbelentwürfe aus dem Art Deco als Vorlage genutzt, wohlgemerkt Drucke der Aquarelle. Mit Hilfe partieller Ausschnitte und eingeklebter, bemalter Raster werden aus der Kollektion an Schränken originelle Bauwerke. Gleichzeitig öffnet sich der Bildraum in die Tiefe, die Wand, also der reale Raum dahinter wird sichtbar. In diesen wirklichen Raum entlasse ich Sie jetzt mit Dank fürs Zuhören.
Renate Puvogel
Rede Herzogenrath 9.11.2014