hausaufgaben

Jochen Mura nennt eine seiner Werkgruppen „Hausaufgaben“. Es handelt sich dabei um Wandobjekte aus Karton, die als standardisierte Häuser mit reich verglasten Fassaden zu deuten sind. Die serielle, ja, eintönige Abwicklung der Fronten zeugt von wenig originellem Gestaltungswillen und charakterisiert eher zeitgenössische Durchschnittsbauten als außergewöhnliche Architekturen. Dass diese Modelle wenig als Vorschläge für vorbildhafte Bauwerke taugen, zeigt ihr bloßer Anblick, zumal sie weder allansichtig noch zu umschreiten sind. Die kleinen, kompakten Hausskulpturen wirken nicht gerade stabil sondern sind in einem Zustand zwischen Konstruktion und Dekonstruktion erfasst. Aber das, was eine Stadt verschandelt, kann als skulpturales Gebilde durchaus ästhetischen Reiz gewinnen und als Kunstprodukt Sinn stiften. Damit gewinnt Mura dem Thema Modell eine spezielle Fragestellung ab.

Wie auch weitere Wandobjekte sind die Häuser ihrerseits in Vitrinen, Wandkästen aus Holz und Acrylglas gestellt; damit ist gewissermaßen das Große in das Kleine, Architektur in einen Karton gepackt, in ein Schutzgehäuse, das Distanz schafft. Eine Vitrine schützt und verbirgt einen Gegenstand vor dem Zugriff und stellt ihn gleichzeitig zur Schau. Die Bedeutung einer Vitrine kam besonders gut bei Muras Installation „Rational“ in der Aachener Innenstadt 2006 zum Tragen. Hier hatte er drei auf schrägen Holzfüßen tänzelnde Wohnkomplexe in einer Ladenvitrine ausgestellt. Die an Bauten des International Style erinnernden Skulpturen waren durchlichtet und gaben gerade an den Stellen Einblick, an denen das Fensterraster ruinös zu werden drohte. Passanten sahen die reale Architektur in dem Glas der Vitrine eher als ein Echo dessen gespiegelt, was sich in den modellhaften Bauten manifestierte; Wirkliches durchdrang Vorgestelltes. Diese Installation allein belegt bereits, dass es Mura weniger daran gelegen ist, vordergründig Kritik an der heutigen mangelnden Baukultur zu üben. Vielmehr benennt er Faktisches subtil dadurch, dass er spezifische baukonstruktive Merkmale einfängt, sie in Bildmetaphern hervorhebt und sie in einem Stadium festhält, in welchem sie sich von ihrer ursprünglichen Funktion auf verschiedensten Wegen entfernen. Muras gesamter Produktion an Objekten und Fotos sieht man an, wie stark sie der aufmerksamen Beobachtung unserer urbanen Umgebung entspringt. Der Künstler reibt sich an dem versatzstückartigen Konglomerat an Formen und Materialien, speichert seine Eindrücke und hält wiederkehrende, das Bild unserer Städte weithin prägende Absonderlichkeiten mit der Kamera fest, um schließlich die Banalitäten auf vielfältige Weise in ver-rückter Gestalt exemplarisch Bild werden zu lassen.

Folglich nehmen die Fotografien in Muras Werk eine dezidierte Rolle ein, denn in ihnen schlägt sich unmittelbar nieder, an welchen Details des urbanen Raumes sich sein detektivischer Blick verfängt. Es sind zumeist Fehlstellen, Brüche, unverträgliche Verbindungen von Figuren, Stoffen und Farben. Indem er Fotos paarweise nach vergleichbaren Kriterien wie Treppengeländer, Fußabdrücke, Löcher, Schatten oder dergleichen zusammenstellt, lenkt er die Aufmerksamkeit auf Bekanntes wie Vernachlässigtes, um beidem eine Nuance des Absurden abzugewinnen. Vergleichbar den Kölner Fassaden bloßstellenden Fotografien von Reinhard Matz sammelt Mura hier Kuriositäten des Normalen als seine visuelle und kognitive Basis, um sie thematisch zu verarbeiten; allerdings nutzt er die Fotos nicht als direkte Vorlagen.1) Eher begreift er das Vagabundieren mit der Kamera als erholsames Gegengewicht zu seinen eigentlichen Hausaufgaben - womit wir wieder bei der eingangs angesprochenen Objektserie angelangt sind.

Allein der Titel „Hausaufgaben“ ist symptomatisch für Muras Konzeptionen, denn der Begriff ist doppeldeutig: Weist er zum einen darauf hin, dass notwendige konstruktive Arbeiten anstehen, so kann er andererseits bedeuten, dass ein Haus aufzugeben, zu verlassen sei, möglicherweise sogar seine Zerstörung geplant ist. Diese zwischen positiver und negativer Inhaltlichkeit schillernde Bedeutung prägt Muras künstlerische Intention und sie sperrt sich gegen das verständliche Verlangen, seine Werke eindeutig Interpretieren zu können. Mit dem Begriff ist eine ambivalente, zwischen Verfall und Neukonstruktion angesiedelte Dimension umrissen, die auch das zeitliche Vorher und Nachher mit einschließt. Ruft man die weiteren Titel der Werke oder Werkgruppen wie „Geschossbauten“, „Implantate“, „Versorgungsschächte“ oder „Strukturstörungen“ auf, dann wird deutlich, dass sie alle die technisch-sozialen Verhältnisse und Probleme gegenwärtigen Wohnungs- und Städtebaus ansprechen, um sie dann in der Arbeit selbst in den Blick nehmen zu können. Obendrein erweisen sich sämtliche Titel als hintergründig, sie liefern Kriterien, die zunächst einmal auf ein intellektuelles Spiel schließen lassen, in sprachlicher Formulierung bereits Wesentliches seiner Arbeiten fassen zu können. Darüber hinaus handeln die Titel aber vor allem von der Doppelbödigkeit und Diskrepanz, die sich zwischen Fiktion und Wirklichkeit, zwischen dem Abstraktum und dem Bildhaften auftut. Die speziellen Bedeutungsebenen der Titel sind den jeweiligen Werken inhärent.

Muras Wandobjekte, die er unter dem Begriff „Versorgungsschächte“ zusammenfasst, sind im Unterschied zu den handelsüblichen, aus widerstandsfähigem Material industriell hergestellten modernder, vorwiegend öffentlicher Bauten aus einfachem Karton zusammengesetzt. In ihrer Ausdehnung lediglich rudimentär, fehlt ihnen jede funktionale Anbindung. Dies unterscheidet sie übrigens auch fundamental von den riesigen, metallenen, minimalistischen Raumskulpturen von Charlotte Posenenske. Mit Acrylglas geschlossene Öffnungen macht die Objekte zu Guckkästen oder auch zu Monitoren. Indem der Betrachter von einem solchen Körper angelockt näher an ihn herantritt und versucht, vorne oder seitlich in ihn hineinzublicken oder ein Bild zu sehen, übernimmt er die aktive Rolle. Doch das Bemühen ist vergeblich, er wird nicht ‚versorgt’, die Sicht ist ihm verstellt, der neugierige Beobachter oder Voyeur wird quasi auf sich selbst zurückgeworfen und ist dazu angehalten, das Objekt in seiner verqueren, anarchischen, dennoch skulptural präzisen Gestalt zu erforschen. Dies gilt insbesondere für einige Stücke dieser Werkreihe, die sich durch mehrschichtig eingesetzte Glasfronten und skulpturale Auswüchse von der Ursprungsbedeutung so weit absondern, dass sie eher als Zwitter zwischen technischen Instrumentarien und kleinformatigen skurrilen Bauwerken daherkommen.

Immer liefert die Realität den Stoff zu reflektierender Aneignung. Die „Vorräume“ orientieren sich unzweideutig an den behelfsmäßigen, mit farbigen Gläsern ausgestatteten Schutzdächern, die häufig zusammenhanglos vor ohnehin nicht eben spektakuläre Eigenheime gesetzt sind. Ins Format kleinerer Wandobjekte umgewandelt, beschreiben sie Zonen des Übergangs. Da sie aber rundum geschlossen sind, erlangen sie auch den Wert von Schatzkästen, deren Innenleben im Unterschied zu den Vitrinen unzugänglich und geheim bleibt. Auf die Weise werden die skurrilen Konstrukte städtischer Räume ausgerechnet durch ihr Kolportieren aufgewertet, womit auch ihr ästhetischer Wert im Kunstprodukt gut aufgehoben ist. Wie hier schwingt in allen Werken ein humorvoller oder zumindest lakonischer Unterton mit, der jedes Moralisieren ausschließt.

Distanz zu einem realen Vorbild erreicht Mura mit Hilfe ganz unterschiedlicher Methoden. Die naheliegendste ist selbstredend diejenige, bei der er die Großarchitektur in das kleinere Format einer Skulptur transformiert. Die Bedeutung der Vitrine in diesem Zusammenhang ist bereits angesprochen. Irritation löst aber z.B. auch die überzeugend einfache Aktion aus, ein Objekt um 90 Grad, also aus der Senkrechten in die Waagerechte oder umgekehrt zu kippen. Mehrere „Geschossbauten“, die sich möglicherweise an den anonymen, von außen einsehbaren Treppenhäusern von Wohnblocks orientieren, mutieren, horizontal nebeneinander platziert, zu Eisenbahnwagons und, diagonal durch den Raum verlaufend, stehen sie als Barriere im Weg. Aufeinandergestapelt machen vergleichbare Bauten ihrem Namen „Geschoss-Bauten“ alle Ehre, ist doch das Doppelbödige in der Konstruktion eingelöst. Gemäß dem Titel konterkariert bei beiden mehrteiligen Installationen das Moment von Stabilität eines Bauwerks dasjenige der Bewegung in Raum und Zeit.

Wenn es um die Balance zwischen Stabilität und Labilität geht, dann kommt dem Verhältnis von Glas und Öffnung in Muras Arbeiten besondere Bedeutung zu. Farbiges Acrylglas schließt die Fläche eines Körpers und rückt ihn in die Nähe eines zweidimensionalen, konstruktiven Bildes. Öffnungen hingegen betonen widersinnigerweise die Dreidimensionalität eines Objektes, obgleich die Leerstellen das Brüchige und Instabile betonen.

Mura hat dieses Spiel zwischen Fläche und Raum in vielfältigen Nuancen erprobt. In „Verschränkung“ von 2008 hat er zwei durchfensterte Raumsegmente dergestalt ineinander geschoben, dass das Innen gleichzeitig die Rolle des Außen übernimmt. Bei „Implantat“ von 2005 sind die Wände des realen Raumes durch Kartonplatten gänzlich zugestellt; lediglich durch einen Guckkasten in Fensterhöhe kann man die bewegte Außenwelt sehen. Zwischen das Innen und Außen hat Mura zusätzlich ein Modellhaus gerückt, so dass der Sehschlitz den Blick auf ein Szenario freigibt, in dem sich Gegebenes und Konstruiertes überlagern.

Während in dieser Arbeit die Wände von innen zugedeckt und damit unsichtbar sind, verbergen die „Verblender“ vorwiegend die Außenmauern. Methoden, mit denen sich in der Architektur ein Material durch ein anderes täuschend imitieren lässt oder durch dessen Vorblenden die Unterschicht versteckt oder geschützt wird, deren gibt es viele. Muras Arbeiten mit Backstein nachahmenden Flachverblendern führen den ganzen Schwindel offen vor, bringen Maßstäbe durcheinander und verwickeln den Betrachter in ein unauflösbares Komplott von realem Raum und Kulisse, von Sehen und Vorstellen, von Sein und Schein. Zwei raumhohe Schornsteine entpuppen sich als Attrappen. Anders als Per Kirkebys Backsteinbauten lassen sie jeglichen Nutzen vermissen, ja, schwarze Dachgiebel vereiteln sogar jeden auch nur imaginierten Rauchabzug. Sie behindern den Durchgang, stehen sich sogar gegenseitig im Weg. Die Pfeiler bewegen sich zwischen absolutem Kunstwerk, Designprodukt und Architekturglied. Sämtliche ihrer Eigenschaften wirken sich als Störfaktoren aus, wobei die winzigen Betten am Fuße der Pfeiler diese verstörenden Manöver noch zusätzlich parodieren. Die Betten und die Dachgiebel haben auf je eigene Weise den Titel „Kopfende“ geprägt. Größenverhältnisse wie auch das Vertrauen auf eine Abgrenzung, ja, Unterscheidung zwischen Innen- und Außenraum sind durcheinander geraten.

Es ließe sich Vilém Flusser heranziehen, der daran zweifelt, dass das Haus in seiner traditionellen Gestalt und Funktion überleben wird: „Dach, Mauer, Fenster und Tür sind in der Gegenwart nicht mehr operationell, und das erklärt, warum wir beginnen, uns unbehaust zu fühlen.“ ... Daher „müssen wir wohl oder übel neuartige Häuser entwerfen. Tatsächlich haben wir damit bereits begonnen. Das heile Haus ... gibt es nur noch in Märchenbüchern, materielle und immaterielle Kabel haben es wie einen Emmentaler durchlöchert: auf dem Dach die Antenne, durch die Mauer der Telefondraht, statt Fenster das Fernsehen, und statt Tür die Garage mit dem Auto. Das heile Haus wurde zur Ruine, durch dessen Risse der Wind der Kommunikation bläst. Das ist schäbiges Flickwerk-. Eine neue Architektur ist vonnöten. Architekten haben nicht mehr geographisch, sondern topologisch zu denken. Das Haus nicht mehr als künstliche Höhle, sondern als Krümmung des Feldes der zwischenmenschlichen Relationen.“ Und Flusser plädiert für „Ein schöpferisches Haus als Knoten des zwischenmenschlichen Netzes.“2)

Muras zwei- und dreidimensionale Bildmetaphern zeigen etwas von diesen Brüchen und Veränderungen. Den Verblendern im weiteren Sinne lassen sich auch die Druckgrafiken der Serie „Flimmer“ zuordnen, denn mit Blattsilber belegte Partien von Raumansichten verdecken die originalen Details. Bei den Transferdrucken handelt es sich um per Computer bearbeitete Abbildungen aus dem Bildband „Die deutsche Wohnung“ des Kunsthistorikers Walter Müller-Wulckow.3) Mit diesen Arbeiten begibt Mura sich auf ein Feld zwischen dem Zwei- und Dreidimensionalen. Der in die Ebene des Fotos gebannte existierende Innenraum gewinnt durch die Collageteile wiederum Objekthaftes; wodurch ein komplexes Geflecht von Vorbild und Nachbild entsteht; in den Grafiken oszilliert der Raum des Realen mit dem des Fotos und des Reliefs. Zudem spiegelt die Silberschicht und öffnet den Raum auch hin zum Betrachter, der sich in einem anders gearteten, gegenwärtigen Raum befindet. Mura hat sich ein wichtiges Zeugnis der Dokumentarfotografie als Vorlage genommen. Die vier in der Reihe der „Blauen Bücher“ 1929 und 1932 erschienenen Fotobände über die „Architektur 1900-1929 in Deutschland“ sind nach Meinung der Autoren eines Nachdrucks „die umfassendste und vor allem vielseitigste Foto-Sammlung eines Zeitzeugen der Architektur der 20er Jahre in Deutschland.“...“Verblüffend ist die Offenheit und die bewusst in Kauf genommene Widersprüchlichkeit Müller-Wulckows, dessen sammlerische Neugier und Qualitätsgefühl ihn vor jeder Dogmatisierung bewahren“. Diese Charakterisierung trifft nicht wenig auch auf das Werk von Jochen Mura zu.

1) Reinhard Matz, Fassade.Köln, Architektur Straßen Öffentlichkeit, Köln 2005
2) Vilém Flusser, Von der Freiheit des Migranten, Einsprüche gegen den Nationalismus, Leck, Bollmann 1994, S. 67/68
3) Walter Müller-Wulckow, Die deutsche Wohnung, Königstein i. Taunus und Leipzig, 1932

Renate Puvogel