begrenzte szenarien

Jochen Mura präsentiert in seiner Welt der Objekte, Plateaus, Guckkästen, Modelle und Bühnen, die in wörtlichem Sinne Verschiebungen und Verlagerungen vorführen.
In seiner Arbeit „Zugang“ beispielsweise klappt er Fußbodenplatten in die Vertikale, ordnet Segmente eines ehemaligen Untergrunds zu einem Bildfries. Die Linoleumstücke, die Mura dem Boden eines ausgedienten ehemaligen belgischen Hospitals entnahm, weisen verschiedne Musterungen und verschiedene Grade der Abnutzung auf. Prozesse der Zeit-die Pfade, die das reale Leben im Hospital bestimmten - werden so zur Regel für Farbe und Komposition eines Bilds. Jochen Mura bettet die Segmente in einzelne Kästen, umgibt sie mit einem neuen Umraum, setzt sie halbtransparenten Wachsflächen entgegen. Die Kunst demonstriert damit ein eigendynamisches Leben, das Elemente eines ehemals öffentlichen Raums vollständig umdefiniert und neue, verschobene Koordinatensysteme hervorbringt.

Eine ähnliche analytisch zergliederte Spurensuche wie Zugang zeigt ein Ensemble mit der symbolischen Rekonstruktion einer Hausetage, die dem Braunkohleabbau mittlerweile weichen musste. Aus dem Material eines Taubenschlags, der sich in dem Gebäude befand - also eine Art Haus im Haus bildete-, errichtete Jochen Mura eine Modell des Zerstörten Baus. Die einzelnen Räume wiederum bildete er als Schachteln nach, die er mit authentischen Tapetenresten beklebte. Das Zimmer als Hohlraum wird zu einem geschlossenen Volumen. Wie in Zugang präsentier Jochen Mura eine Rekonstruktion, die Zeichen und Signaturen – beispielsweise der Vergangenheit – aufgreift und gleichzeitig neue räumliche und inhaltliche Zusammenhänge erzeugt. Genau in diesem Sinne lassen sich auch die fotografischen Arbeiten Muras verstehen: Der Künstler stellt jeweils zwei Architektur-Fotografien gegenüber, die durch elementare Strukturen oder Motive verbunden sind. Geometrische Grundelemente wie Rechteck oder Dreieck oder Musterverläufe fungieren als Leitmotiv, das zwei Areale völlig unabhängig von deren architektonischer Herkunft miteinander verbindet.

Die künstlerischen Modelle Muras definieren Bedeutungsverschiebungen, befreien Räume von ihrer Funktion. Die Versorgungsschächte etwa laufen ins Leere, weiden keine zutragende, versorgende Funktion auf. Gestaltet sind sie als Guckkästen, gestatten durch die Fensterfronten einen Einblick in ihr – funktionsloses – Inneres. Versorgt – so ließe sich die Arbeit deuten – wird ausschließlich das Auge des Betrachters, dem ein Durchblick gestattet wird. Aus der technischen Funktion wird damit ein Symbol für die Kunst, die neue existenzielle Bedürfnisse – und neue existenzielle Lösungen – bloßlegt.
Symbolisch fasst dieses Prinzip die Arbeit „Mehrzweckgrund“ zusammen. Segmente von PVC-Böden bilden hier eine grüne Fläche, die beispielsweise an ein Sportfeld oder eine Tischtennisplatte erinnern. Die Markierungen auf diesem Feld werden durch die Linien auf einer vorgesetzten Glasscheibe überlagert. Sieht man die Arbeit als Programm, dann liefert die Kunst also einen frei belegbaren „Mehrzweckgrund“, indem sie völlig verschiedene Ebenen aufeinander bezieht, ineinander blendet.
Dieses Verfahren betrifft – das zeigte „Zugang“ – auch zeitliche Verläufe. Bei „Durchzug“ übersetzt Mura die Geschwindigkeit eines Eisenbahnwaggons in eine einfache räumliche Situation, die die Bewegungskoordinaten um neunzig Grad verlagert. Zwei in der Tiefe versetzte Wachsplateaus in dem als Sockel dienenden Schrank verweisen auf die Verschiebung, die der Zug in Fahrtrichtung erführe. Die Fixierung auf einen eingefrorenen Moment wird symbolisch durch die räumliche Staffelung ausgeglichen. Das skulpturale Objekt erscheint als Medium, das seine prinzipiell bedingte statische Rolle symbolisch überwindet und in der Lage ist, Dynamik und technische Energie strukturell wiederzuspiegeln.

In „Kopfstand“ erscheinen – in der Höhe – versetzte Ebenen als betretbare, mit der Unterseite der Linoleumplatten belegte Plateaus. Die Rolle des dynamischen Elements kommt hier dem Betrachter zu, der wortwörtlichem Sinne perspektivische Blickwechsel vollziehen kann. Bestandteil der Installation ist ein aus zwei Nachtschränken zusammengesetztes Objekt, aus dessen Korpus einige Segmente herausgeschnitten sind, Die Hohlräume des Schranks sind mit weißem Wachs ausgegossen. Das Möbelstück ist - genauso wie der „Versorgungsschacht“ – seiner Funktion enthoben. Welche Perspektive der Betrachter auf den verschiedenen Ebenen auch einnimmt – stets behauptet die Kunst so ihre Autarkie und ihre Kraft, vorhandene Raumsysteme vollständig umzudeuten. Muras Kunst erzeugt Blickverschiebungen, befreit Räume von festgelegten Bedeutungen – und stellt gleichzeitig die eigene Künstlichkeit und Modellhaftigkeit heraus. Sie bekennt sich dazu, ein begrenztes Szenarium zu sein – ohne ihren Anspruch auf eine Neudeutung der Welt zu relativieren.

dr. peter joch (katalogtext, „begrenzte szenarien“)